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Labor der Dinge

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2022

Forschende konnten erstmals ein Genom vollständig entschlüsseln und bringen die Krebsforschung mit Quantencomputing voran. Aber welche praktische Bedeutung haben solche technologischen Innovationen für die Medizin?

Text: Verena Fischer

Ein Puzzle aus mehr als drei Milliarden Teilen: Anfang dieses Jahres ist es dem internationalen Forschungsteam „Telomere-to-Telomere (T2T)-Konsortium“ gelungen, ein menschliches Genom vollständig zu entschlüsseln. Trotzdem gibt sich der Bioinformatiker Prof. Dr. Tobias Marschall– einer von knapp 100 beteiligten Forscherinnen und Forschern – gelassen. „Diesen Meilenstein zu erreichen, war ein jahrzehntelanger Prozess, an dem zahlreiche Menschen beteiligt waren“, sagt er. Von Außenstehenden wurde der Durchbruch mit großer Begeisterung gefeiert. Das „Time“-Magazin etwa hat die vier Studienleitenden stellvertretend für das ganze Team in die Liste der „100 wichtigsten Personen 2022“ aufgenommen und Forschende erhoffen sich nun neue Erkenntnisse über die Entstehung von Krankheiten sowie Chancen für die Routinediagnostik.

Puzzeln auf hohem Niveau

Ein Rückblick: Bereits im Jahr 2003 schrieb das Humangenomprojekt Geschichte, als es 92 Prozent des menschlichen Genoms sequenzierte. Seitdem bemühen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die restlichen acht Prozent zu entschlüsseln – lange ohne Erfolg. Das T2T-Konsortium erreichte das Ziel nun mit einer Kombination von zwei DNA-Sequenzierungstechnologien, die in den letzten zehn Jahren entwickelt wurden. Die erste ist die DNA-Sequenzierungsmethode von Oxford Nanopore, die bis zu einer Million Basen auf einmal sequenzieren kann, wenngleich mit einigen Fehlern. Die zweite Methode ist von PacBio HiFi, die 20.000 Buchstaben mit einer Genauigkeit von 99,9 Prozent lesen kann. Zur Veranschaulichung benutzt Prof. Marschall folgendes Beispiel: „Stellen Sie sich einmal die Aufgabe vor, ein riesiges Bild aus vielen kleinen Teilen zusammenzubasteln, ohne die geringste Ahnung, wie das vollständige Bild überhaupt aussehen soll. Um die Aufgabe zu lösen, bietet man Ihnen zwei Puzzle-Sets zur Wahl an: eines mit 50.000 Teilen von gestochen scharfer Qualität und eines mit 5.000 Teilen, die verschwommen sind.“ Er fährt fort: „Wahrscheinlich wird Sie keines der Sets einzeln zum Erfolg führen. Nehmen Sie aber beide, dann können zuerst die 5.000 unscharfen Teile zusammengebaut werden, wodurch zwar noch kein klares Bild, aber wenigstens eine gute Vorlage entsteht, um das Mosaik aus 50.000 Teilen zu schaffen. Und genauso sind wir vorgegangen.“

Und so ist es dem Team von Prof. Marschall gelungen, einen Algorithmus zu entwickeln, der beide Techniken miteinander kombinieren und den Prozess automatisieren konnte. „Es gab aber noch eine weitere Herausforderung“, ergänzt Marschall. „Wir brauchten ein haploides Genom, also eines, das nur den Chromosomensatz eines Elternteils enthält.“ Er erklärt: „Denn bleiben wir bei der Puzzle-Aufgabe von vorhin: Wenn die Bastelsets jedes Teil doppelt enthalten, sich die Dubletten aber geringfügig unterscheiden, dann würden Sie beim Puzzeln vermutlich endgültig verzweifeln.“ Als Lösung nutzten die Forschenden das Genom einer sogenannten Blasen-Mole. Diese ist das Ergebnis einer gestörten Embryonalentwicklung, bei der die mütterlichen Chromosomen der Eizelle verloren gehen und nur die väterlichen übrig bleiben.

Letztendlich ist das Genom aller Menschen zu 99,9 Prozent identisch. Oder anders ausgedrückt: Nur 0,1 Prozent unseres Genoms sind  
für die genetischen Unterschiede zwischen uns verantwortlich

PROF. DR. TOBIAS MARSCHALL

Weniger Fehler, mehr Gene

Seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 2001 hat das menschliche Referenzgenom hauptsächlich den protein-kodierenden Teil des Genoms abgebildet – also jenen, der von der mRNA abgelesen und zu Proteinen umgebaut werden kann. Die inaktiven, heterochromatischen Bereiche blieben der Forschung hingegen weitestgehend verborgen. Bis jetzt: Das Referenzgenom, es trägt den Namen T2T-CHM13, enthält endlich die lückenlose Sequenz aller 22 menschlichen Autosomen sowie des Chromosom X. Dementsprechend lang ist es auch: Es misst 3.054.815.472 Basenpaare und liefert zusätzlich die vollständige Sequenz des Mitochondrien-Genoms, was weiteren 16.569 Basenpaaren entspricht. Bestanden beim früheren Referenzgenom noch Fehler, so konnten diese nun vollständig korrigiert werden. Zusätzlich wurden 1.956 Gene ergänzt, von denen 99 proteinkodierend sind. Insgesamt sind 200 Millionen Buchstaben hinzugekommen, was in etwa einem ganzen Chromosom entspricht. Für Forscherinnen und Forscher sind nun insbesondere auch die Sequenzen der Zentromere von großem Interesse. Da diese aus sehr vielen sehr kurzen und sich wiederholenden Sequenzen zusammengesetzt sind, lassen sich diese besonders schwer sequenzieren. Auch die kurzen Arme aller fünf akrozentrischen Chromosomen glichen bisher einem weißen Fleck auf der genetischen Landkarte. Die genannten Strukturen können nun erstmalig für Variations- und Funktionsstudien genutzt werden, wodurch sich neue Perspektiven ergeben. „Interessant ist, dass jene Teile des Genoms, die viele sich wiederholende Abschnitte enthalten, auch diejenigen sind, die sich von Mensch zu Mensch am meisten unterscheiden“, berichtet Marschall. Es ließen sich daraus entscheidende Hinweise gewinnen, wie unsere menschlichen Vorfahren rasche evolutionäre Veränderungen durchlaufen haben, die zu einer komplexeren Kognition führten, sagt er. „Letztendlich ist das Genom bei allen Menschen zu 99,9 Prozent identisch. Oder anders ausgedrückt: Nur 0,1 Prozent unseres Genoms sind für die Unterschiede zwischen uns verantwortlich.“

Genomdiagnostik 5.0

„Es ist zu erwarten, dass Studien von genomischen Variationen künftig die Entdeckung von Krankheitsursachen im menschlichen Genom vorantreiben werden“, sagt Marschall. Dr. Charles Rotimi, wissenschaftlicher Direktor des National Human Genome Research Instituts, erklärte in einem Interview, dass die wissenschaftliche Errungenschaft des T2T-Konsortiums ein wichtiger Schritt sei, um die individualisierte Medizin der gesamten Menschheit näherzubringen. Auch Studienleiter Dr. Adam Phillippy hofft, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre die Sequenzierung des individuellen Genoms zu einem medizinischen Routinetest wird, der weniger als 1.000 US-Dollar kostet. Im Moment sei der Prozess aber noch zu teuer und zu zeitaufwendig. Zusätzlich sei die automatisierte Entschlüsselung von diploiden Genomen eine schwierige Herausforderung, die eine kontinuierliche Entwicklung erfordere. Bis dieses Ziel erreicht ist und jedes menschliche Genom vollständig und fehlerfrei sequenziert werden kann, nutzen Forschende das T2T-CHM13-Referenzgenom aber bereits für die Krebsforschung.

Ein diagnostischer Quantensprung

Die innovative Krebsforschung ist das Thema von Prof. Dr. Niels Halama, der die Abteilung für Translationale Immuntherapie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet. Der Wissenschaftler ist gleichzeitig Oberarzt für Tumorerkrankungen an der Uniklinik Heidelberg und forscht mit seinem Team daran, neue Immuntherapien, vor allem für Darmkrebserkrankte, sowie diagnostische Möglichkeiten zu entwickeln, um jene Patientinnen und Patienten gezielt auszuwählen, die von einer solchen Therapie tatsächlich profitieren können. Unterstützung bekommen Prof. Halama und sein Team dabei neuerdings von dem IBM-Quantencomputer „Q System One“. Auf den ersten Blick wirkt der erste schaltkreisbasierte, kommerzielle Quantencomputer der Welt wie eine Mischung aus Kronleuchter und „Men in Black“-Kulisse. Doch der fast drei Meter hohe Glaswürfel hat es in sich: Sein Prozessor arbeitet mit einer Geschwindigkeit von bis zu 27 Qubit, die anders als normale Computer-Bit nicht nur die Positionen 0 und 1 einnehmen können, sondern simultan auch Werte dazwischen (Superposition). Außerhalb der USA gibt es ihn nur ein einziges Mal, am IBM-Standort in Ehningen nahe Stuttgart. Ebenfalls ansässig ist hier das eigens dafür gegründete Fraunhofer-Center für Quantencomputing, das mit dem DKFZ und Prof. Halamas Team kooperiert. „Der große Vorteil des Quantencomputings ist, dass wir auch mit sehr kleinen, sehr heterogenen Datensätzen systematische Analysen durchführen können“, erklärt Halama. „Unsere Hoffnung ist, dass wir damit auch für seltene Erkrankungen oder kleine Subgruppen schneller und besser diagnostische Möglichkeiten zur Verfügung stellen und die Patienten besser versorgen können.“

Gezielte Darmkrebsdiagnostik

Darmkrebs ist bei Männern die dritthäufigste und bei Frauen sogar die zweithäufigste Tumorerkrankung. Wird er erst im fortgeschrittenen Stadium entdeckt, können zielgerichtete Therapien die Überlebenszeit deutlich verlängern. Dabei geht die Entwicklung hin zur Personalisierung, mit der die Therapie an die Eigenschaften des Tumors und die Situation der Betroffenen angepasst wird. Eine Möglichkeit dafür ist die Immuntherapie, sagt Halama und erklärt: „Die Komplexität in der Tumor-Mikroumgebung ist bei Darmkrebs sehr hoch. Eine Standard-Chemotherapie wirkt daher nicht bei allen Patienten. Es braucht dann andere Interventionen, um das Immunsystem wieder in Gang zu bekommen. Und das Entscheidende ist, welche Signale es in dem individuellen Fall genau braucht.“ Obwohl Patientinnen und Patienten heute immer größere Datenmengen zu ihrer Erkrankung mitbringen, können diese mit herkömmlichen Methoden nicht immer ausreichend genutzt werden. „Quantencomputing macht ebensolche Analysen möglich, weshalb sich daraus viele Chancen für die individuelle Diagnostik und Therapie ergeben“, erklärt Halama.

Der Biomarker-Hürdenlauf

Die Vorgehensweise bei der Etablierung neuer Biomarker ist in der Regel so, dass Forschende zu Beginn beobachten, welche Botenstoffe es braucht, damit gezielte Veränderungen in der Tumor-Mikroumgebung passieren oder auch nicht passieren können. „Hat man einen Biomarker gefunden, gilt es, dessen Qualität nachzuweisen“, erklärt Halama. „Wir fragen uns, welche Tests entwickelt werden können, um den Biomarker nachzuweisen, prüfen die Verlässlichkeit und Reproduzierbarkeit und schauen dann auf Klinikebene, welche Patienten von der Therapie profitieren können.“ Selbstverständlich müsse der Nutzen belegt werden, was bei immunologischen Markern teils schwierig sei, weil diese dynamischen Prozessen unterliegen und sich daher schnell verändern können. Eine andere technologische Innovation gehört derzeit noch nicht zur Standarddiagnostik: die Messung der Dichte von bestimmten Immunzellen oder Immunsignalbotenstoffen in der Mikroumgebung, beispielsweise von infiltrierenden T-Lymphozyten oder Zellen, die den Botenstoff PD-L1 an der Oberfläche tragen. „PD-L1 wird als Biomarker sogar schon eingesetzt, um Patienten zu identifizieren, die von einer Immuntherapie profitieren“, berichtet Halama. Denn PD-L1 funktioniert für Krebszellen wie ein Schlüssel, mit dem sie das Immunsystem abschalten können. Dieser Effekt kann mithilfe einer Immuntherapie unterbrochen werden. „Aber dafür müssen wir selbstverständlich prüfen, ob die Zielstruktur überhaupt vorhanden ist.

Der große Vorteil des Quantencomputings ist, dass wir auch mit sehr kleinen, sehr heterogenen Datensätzen systematische Analysen durchführen können

PROF. DR. NIELS HALAMA

„Q System One“ lernt dazu

Solche umfangreichen Analysen schnell und ohne aufwendige Algorithmen durchzuführen, ist ein großer Vorteil von Quantencomputing, wie Halama erklärt. „Die Schwierigkeit ist aber, und deswegen sind wir über die Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut sehr glücklich, dass sich die Technik momentan noch in den Kinderschuhen befindet.“ Viele Systeme seien noch nicht vollständig ausgereift und die Hardware funktioniere noch nicht zuverlässig. „Wir gehen davon aus, dass es noch zwei bis vier Jahre dauern wird, bis die Hardware so leistungsfähig ist, dass wir damit herausragende Diagnostik erschaffen können. Bis dahin können wir viel optimieren und vorbereiten.“ Eines aber ist sicher: Die Vielfalt von Technologien und Datenerhebungen nimmt in der Medizin stetig zu. „Wir haben schon einige Patienten, die in die Sprechstunde kommen und eine Festplatte mit Daten im Handgepäck haben, die Omics-, immunologische und Sequenzanalysen enthalten sowie Daten, welche Antigene es gibt, wie die T-Zellen aussehen und vieles mehr. Davon wird sicherlich nicht alles in die Routine gehen, aber ein Teil davon ganz bestimmt“, berichtet Halama und ist sicher: Quantencomputing ist eines der Werkzeuge, das die individualisierte Diagnostik und Therapie deutlich verbessern kann.

Summary

  • Technologische Innovationen wie Genomsequenzierung oder Quantencomputing haben großes Potenzial, die Krebsmedizin zu verbessern
  • Ziel dieser Entwicklung ist eine Personalisierung von Therapien, die individuell auf Patientinnen und Patienten abgestimmt werden können

 

Fotoquelle: IBM, Graham Carlow, privat, Adobe Stock, Jürgen Arlt

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